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Der Spagat zwischen lebensrettender Distanz und gesellschaftsrelevanter Präsenz im öffentlichen Raum

vom 07.05.2020 veröffentlicht über meinMemo

2013/14 initiierte der Fonds Darstellende Künste das Sonderprojekt Unorte für die dar-stellenden Künste im öffentlichen Raum. 18 Projekte wurden gefördert, künstlerisch ein-zugreifen und an „Nicht-Orten“ im öffentlichen Raum zu intervenieren, die sich außerhalb der klassischen Kunst und Kulturstandorte befinden.

Theater und performative Kunst im öffentlichen Raum wirken durch das Aushandeln der Grenzen zwischen Künstler*innen, Ort und Publikum – ein Dialog, der exemplarisch für gesellschaftliche und demokratische Prozesse steht. Partizipation im Kreations- und Realisierungsprozess ist ein häufiges Charakteristikum des Genres und ermöglicht einen Zugang zu Kunst und Kultur, der kulturelle Teilhabe schafft, einen Perspektivwechsel ermöglicht und wesentlich dazu beiträgt eigene Aktionsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu erfahren. Somit setzen Künstler*innen direkt an den neuralgischen Punkten der Öffentlichkeit an, setzen sich immerfort mit den Grenzen und Begrenzungen des öffentlichen Raums auseinander und konfrontieren das Publikum damit im direkten Austausch. Künstlerische Darbietungen im öffentlichen Raum verknüpfen kreative Fiktion mit den vorhandenen Realitäten. Alltägliches wird um Vision und Inspiration erweitert. Es werden andere Bedeutungen und Nutzungen für Orte und Gegenstände gefunden und das Publikum selbst zur kreativen Umnutzung ebendieser inspiriert. Die empfundene individuelle Bewegungsfreiheit vergrößert sich, neue Möglichkeitsräume werden geschaffen.

2020 befinden wir uns nun inmitten einer Pandemie, die das öffentliche gesellschaftliche Leben im weitesten Sinn zum Erliegen bringt. Im öffentlichen Raum ist kaum Austausch über den Familienkreis hinaus möglich. Versammlungen jeglicher Art, politisch, künstlerisch, gesellschaftlich, sind verboten oder nur eingeschränkt möglich. Öffentliche Gesellschaft findet kaum statt, zumindest nicht physisch. Aktuell dominieren virologische, ökonomische und politische Diskurse den öffentlichen Raum und reduzieren seine Nutzung massiv. Seine Wahrnehmung wird durch die Interpretation als pandemischer Risikoraum bestimmt. Somit ist der komplette öffentliche Raum seiner Funktion als Ort der Begegnung, des Diskurses, des gemeinsamen Erlebens von Kultur zurzeit beraubt. Öffentlichkeit verlagert sich in die virtuellen Räume des Internets.

Situationsbedingt verlieren gerade Künstler*innen und Kulturschaffende ihren Wirkungsort und ihren Arbeitsauftrag, da sämtliche Veranstaltungen für dieses Jahr nicht stattfinden können. Dies bedeutet allein schon auf existenzieller Ebene einen Verlust von mehr als zwölf Monaten, da ihre Kunst ein saisonales Geschäft ist, das frühestens im Mai 2021 wieder aufgenommen werden kann. Hier fordern wir als Bundesverband Theater im öffentlichen Raum mit Nachdruck nachhaltige und existenzsichernde Lösungen und Hilfen seitens der Politik.

Der öffentliche Raum war schon immer ein umkämpfter Raum. In den letzten Jahrzehnten wird er immens von Privatisierung, Kommerzialisierung und Verkehr bedroht. Hinzu kommen Überwachungsmechanismen, die unter dem Aspekt der Sicherheit die Nischen der Freiheit weiter einschränken. Unsere Beschreibung der aktuellen Situation dient nicht dazu, Kritik an den gesundheitspolitischen Entscheidungen der Regierungen zu üben. Diese Maßnahmen sind lebensnotwendig. Dennoch muss ein Bewusstsein geschaffen werden, was die momentan stattfindende Abschaffung des öffentlichen Raums für eine demokratische Gesellschaft bedeutet, welche Gefahren sie birgt, und welche negativen gesellschaftlichen Folgen daraus resultieren. Der virtuelle Raum kann physische Begegnungen nicht ersetzen.

Diese Erkenntnis gilt es als Chance zu be- und ergreifen. Künstler*innen, Veranstalter innen, kommunale Kulturämter u.a. entwickeln deshalb alternative Formate, Theater im öffentlichen Raum möglich zu machen – trotz der Pandemie, trotz des Wegfalls der Bühne "Stadtraum", trotz des Fehlens großer Publikums-Versammlungen. Sie stellen sich die Frage, wie darstellende Kunst im öffentlichen Raum als Präsenzkunst stattfinden kann, ohne die Unversehrtheit von Menschen zu gefährden. Es ist ein Versuch, den großen Spagat zu vollbringen zwischen lebensrettender physischer Distanz und gesellschaftsrelevanter physischer Präsenz im öffentlichen Raum.

Der Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum und seine Mitglieder* stehen für Gespräche, Kooperationen und Diskurse bereit. Wir hoffen, dass wir bald wieder ohne Gefährdung von Gesundheit in direkten und vielfältigen Kontakt mit unserem Publikum treten können.