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Unter freiem Himmel — Ein Glossar des Straßentheaters von Holger Ehrich

APPLAUS ist NICHT das Brot des Künstlers und der Künstlerin. Auch sie müssen ihr Brot kaufen, deshalb sind gute Gagen unabdingbar.

BRATWURST-FESTIVALS nennen Straßenkünstler:innen leicht abschätzig Events, bei denen die Acts lieblos als Deko zwischen Gastrobuden gestellt werden. Zwar sind manche Straßentheater-Darbietungen unkompliziert, weil sie ohne Bühne und Technik auskommen, aber auch diese brauchen kenntnisreiche Planung. Übrigens beweisen mehrere Umfragen auf Straßentheaterfestivals: Das Publikum kommt, um Shows zu sehen, nicht wegen der Gastro.

CORONA bedeutete für das Theater im öffentlichen Raum zunächst einen krassen Einschnitt. Festivals entfielen oder mussten Corona-kompatibel geschrumpft werden. Gleichzeitig gab es durch die Einschränkungen einen Aufbruch: Viele Städte haben den öffentlichen Raum neu entdeckt. Einige so entstandene Formate werden auch nach der Pandemie fortgesetzt. Günstigstenfalls in Zusammenarbeit mit den erfahrenen Expert:innen des Genres.

DEUTSCHLAND ist immer noch Entwicklungsland in Sachen Theater im öffentlichen Raum, vor allem im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarländern. Dort wird es als eigenständige Kunstform auf Augenhöhe mit Schauspiel, Oper oder Ballett gesehen. Hierzulande denken manche bei Straßentheater immer noch an drittklassigen Quatsch. Aber seit einiger Zeit ändert sich das und Deutschland schickt sich an, the next-big-thing zu werden.

FESTIVALS sind für Straßentheater, was für das Bühnenschauspiel die großen Theaterhäuser sind. Hier kommt die Crème de la Crème unter einem Dach zusammen – nur ohne das Dach.

GENRE-MIX Der öffentliche Raum wird interdisziplinär bespielt: Darstellende und Bildende Kunst, neuer Zirkus, Performance-Art und Entertainment verbinden sich wie die Zutaten eines exquisiten Cocktails.

HUTSAMMLUNG ist nicht die Abteilung für Kopfbedeckungen eines Textilmuseums, sondern bezeichnet den Moment, wenn das Publikum einen freiwilligen Eintritt leistet – eigentlich Austritt, denn gesammelt wird üblicherweise nach der Show. Für sogenannte Busker, die auf eigene Rechnung irgendwo spielen, ist der Hut die einzige Einnahmequelle. Bei kuratierten Festivals, die durch öffentliche Förderung und Sponsor:innen getragen werden, ist Hutsammlung seltener.

NIEDRIGSCHWELLIGKEIT ist eines der Merkmale des Genres, das vielleicht die demokratischste Kunst von allen ist. Es erreicht ein breites Publikum aller Schichten und Generationen, einschließlich Menschen, die – warum auch immer – sonst nie einen Fuß ins Theater setzen würden.

PLATZINSZENIERUNG ist keine kunstvolle Präsentation explodierender Luftballons. Hier wird ein großer Platz komplett bespielt. Dabei kann das Publikum aus über tausend Menschen bestehen und sich mitten im Geschehen befinden: zwischen mobilen Bühnen, Pyro- Effekten, Fahrzeugen, Live-Musik … Andere Platzinszenierungen werden nur von einer kleinen Anzahl Zuschauender gleichzeitig besucht und faszinieren durch Ruhe und Poesie.

SITE SPECIFIC hört sich cooler an als »ortsspezifisch«, meint aber das Gleiche: Inszenierungen, die auf einen bestimmten Ort eigens zugeschnitten sind. Die besondere Vorbereitung lohnt sich, weil neue Perspektiven auf Alltagsräume entstehen.

STATIONENTHEATER ist keine Show am Bahnsteig, sondern eine Inszenierung, bei der das Publikum von einem Spielort zum nächsten wandert. Schaufenster, Parkanlagen, Balkone … fast alles kann verwandelt und neu entdeckt werden.

SCHLECHTES WETTER kann eine Outdoor-Vorstellung verhageln. Die Straßenkunst hat aber seit der Antike einen geheimen Pakt mit den Wettergöttern geschlossen, die diese verpflichtet, dem Genre gegenüber gewogen zu sein.

THEATER IM ÖFFENTLICHEN RAUM ist der denkbar holprigste Name für ein künstlerisches Genre und die Suche nach einer Alternative beschäftigt die kreativen Köpfe der Szene. In England heißt es »out- door arts« und das klingt 100 Prozent mehr sexy.

Holger Ehrich ist künstlerischer Leiter des Festivals »Welttheater der Straße« in Schwerte und Vorstandsmitglied des Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum. Mit dem Duo Diagonal steht er selbst auf der Bühne und ist Teil verschiedener Outdoor-Arts-Projekte wie »Das kleinste Varieté der Welt« und dem Kunst-Jahrmarkt-Ensemble »Rummel Rausch & Töchter«.