Le Bull Machin de Villeurbanne

Das Lied der Straße – Aktuelles Theater im öffentlichen Raum

Es war Federico Fellini, der mit »La Strada« den Straßenkünstler:innen vor 70 Jahren ein großartiges cineastisches Denkmal setzte. Es war der erste Film, der 1955 mit einem Oscar als »Bester fremdsprachiger Film« ausgezeichnet wurde. Ein weiterer Meilenstein für die eigentlich uralte Kunst des Straßentheaters waren die Olympischen Spiele 1972 in München, in denen es hoch herging. Bis zu dem schrecklichen Attentat waren das muntere, bunte und sehr kulturelle Spiele mit einem avantgardistischen Theaterprogramm außerhalb der heiligen Sporthallen. Es gab sogar eine Seebühne und ein Open-Air-Theatron.

In der Folge waren es vor allem englische Theatergruppen, die aus dem Bath Arts Workshop und Natural Theatre kamen, die uns Deutschen den Freiluftspaß im öffentlichen Raum nahebrachten, wie die Yeoman-Brüder als Crazy Idiots oder Corinne de Cruz und Michael Banks als British Events Theatre Company. Letztere setzten sich auch vor wenigen Jahren zur Ruhe und treten nur noch gelegentlich als »Weather Show« mit ihrem originalen wie originellen englischen Regen auf. Die große Kanone, mit der sie hunderte Events bespaßten, genießt wie die beiden in Dover jetzt aber den Ruhestand.

DAS GROSSE WELTTHEATER

Die neueste Produktion der Royal de Luxe ist eine gigantische englische Bulldogge.

Die neueste Produktion der Royal de Luxe ist eine gigantische englische Bulldogge.

Jean-Luc Courcoult ist der kreative Kopf der französischen Gruppe Royal de Luxe aus Nantes. Seit 1979 verzaubern seine Großproduktionen im öffentlichen Raum die Zuschauenden: ob jung oder alt, ob groß oder klein. Wobei es bei Royal de Luxe immer etwas größer als im richtigen Leben ist. Gigantische Giraffen, Nashörner oder Elefanten marschieren unter dem Kommando von Jean-Luc Courcoult. In der neuesten Produktion ist es eine gigantische englische Bulldogge. In Berlin erinnert man sich noch an die Begegnung des ebenso gigantischen Tauchers mit seiner Nichte. Zwei Millionen Zuschauende waren damals dabei zum Jahrestag des Berliner Mauerfalls und staunten maßlos. De Luxe erzählten 1989 die komplette französische Geschichte 16-mal in Frankreich und anschließend auf Europa- und Südamerikatournee. By the way: Der Taucher hat es auch nach Liverpool und Chile geschafft. In Mexiko besuchte er die 200-Jahr-Feierlichkeiten und seine Nichte traf er dann in Australien wieder. Kaum jemand ist – trotz der logistischen Herausforderungen – so herumgekommen wie Jean-Luc Courcoult. Jetzt tapst die Bulldogge auf den Spuren des spektakulären »Elefant des Sultans«. Der gigantische Hundi ist die 83. Schöpfung. Royal de Luxe haben mit 1.500 Performances 27 Millionen Zuschauende erreicht. Sie waren in 220 Städten in 43 Ländern auf allen fünf Kontinenten zu Gast. Royal de Luxe sprengen alle Dimensionen.

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG

Die Pinguine von Theater Pikante auf dem Vormarsch.

Die Pinguine von Theater Pikante auf dem Vormarsch.

Alle möglichen Tiere und auch sonstige verschrobene Wesen haben es Theater Pikante angetan. Sie dringen in die Fauna unseres Planeten vor und machen auch vor dem Mikrokosmos nicht halt. Sie gehören zu den Dienstältesten im deutschen Theater-Außendienst. Es kribbelt und krabbelt, wenn sich die Waldameisen Platz verschaffen. Die Pinguine sind die dreistesten Arktisbewohner:innen seit den Zeiten der Crazy Idiots (die waren ein Straßenfeger mit ihrer Pinguinnummer) in den Achtzigern. Und so richtig ornithologisch wird es unter Geiern. Seit 25 Jahren sind die Ladies von Theater Pikante unterwegs. Das Repertoire außerhalb des Tierreiches streckt sich von Gartenzwergen über Matrosen hin zu den komischsten Klofrauen, die auf Events je Dienst geleistet haben. Sie kommen neuerdings aber auch als aparte Salondamen oder als LoLa und Gießbert mit großen wie kleinen Saiteninstrumenten. Den Kern der komischen Walk-Acts bilden Rike Radloff und Susanne Grampp.

DRAUSSEN VOR DER TÜR

Während das Straßentheater überwiegend auf dem Boden bleibt, geht es bei Grotest Maru aus Berlin auch schon mal in die Vertikale. Da werden erhabene Häuserfronten bespielt. Die Darsteller:innen hängen dabei wortwörtlich in den Seilen. Grotest Maru kreiert Theater im öffentlichen Raum als Bilder- und Körpertheater. Die Gruppe wurde 1996 in Berlin gegründet und tourt seit 1999, dabei oft auf Einladung des Goethe Instituts, bisher in 29 Ländern in aller Welt. Zumeist kommen sie ohne Worte aus.

Das Schwarm Projekt von Grotest Maru.

Das Schwarm Projekt von Grotest Maru.

Die Programme sind generationenübergreifend und überwinden Grenzen der Wahrnehmung. 2021 und 2022 entwickelte Grotest Maru mit Hilfe des Programms »Neustart Kultur« zwei neue Produktionen, die nun auf Tour gehen. »Global Amazonia« ist ein sinnliches Fassadentheater mit Lufttanz, Großprojektionen und Live-Musik zum Thema Klimawandel, bei dem das Publikum in die fantastischen Bildwelten des Amazonas eintaucht und die Bedrohung des Amazonasgebietes, aber auch seine Wiederbelebung, erleben kann. Bei dem Programm »Schwarm« geht es erneut in die Vertikale. Es ist ein mobiles Stelzentheater mit Audiowalk und Live-Musik zum Thema Migration, bei dem riesige Kraniche das Publikum mit auf ihre Reise nehmen.

EIN SOMMERNACHTSTRAUM

Das Theater Anu, das ebenfalls in Berlin beheimatet ist, verwandelt Städte in träumerische Räume, die die Zeit relativ werden lassen. Niemand entschleunigt die urbane Hektik so wie die Figuren von Bille und Stefan Behr, die 2007 aus Hessen in die Hauptstadt übersiedelten. Ihre Engel über der Stadt sind legendär. Generell schafft das Theater Anu Begegnungen zwischen Darstellenden und Besuchenden in einem ansonsten ungeschützten Theaterraum: dem Stadtraum. Es gilt, die Realität zu verändern. Atmosphäre und Schönheit, Zeit, Begegnung und Nachhaltigkeit – alles, was in der heutigen Zeit zunehmend Seltenheitswert erlangt. Eines der aktuellen Programme für diesen Sommer ist »Perpetuum – Stadt ohne Mühsal«. Ob Chatbots, KI-gestützte Suchmaschinen, Angst vor Blackouts und die damit verbundene Frage nach der Energie der Zukunft: Anu lässt mit »Perpetuum« die Menschheit eine urbane Utopie wagen.

Theater Anu erobert den Himmel.

Theater Anu erobert den Himmel.

Der vollständige Plan eines Perpetuum Mobile wird gefunden. Der tiefsinnige und bilderreiche Theaterreigen zeigt darum herum sechs poetische Anschauungen aus den Bereichen Religion, Kunst, Wissenschaft und Zukunftsvision und stellt dabei die Frage nach der Stadt der Zukunft. Wie kann das soziale Wesen Mensch in einer zukünftigen Gemeinschaft leben, wenn alles, was es umgibt, nur auf das individuelle Wohl des Einzelnen ausgelegt ist? In der Parkinstallation »Dreamer« kommt es zur Treibjagd, um das Wilde wieder einzufangen. Das Publikum wird zum Teil der Jagdgesellschaft. Es wird mitgenommen auf einen Erlebnisparcours, spinnt sich ein in eine fantastische Welt und wird Teil eines Traums, der auch zuweilen die Grenze zum Albtraum überschreitet. Die Parkinszenierung ist emotionsstarkes Open-Air-Theater mit Publikumsbeteiligung, Videokunst, Lichtskulpturen und Soundelementen um das Wilde in uns selbst. Die Produktion wird voraussichtlich auch beim Sommerevent von Anu auf dem Tempelhofer Feld Anfang August 2023 gezeigt.

GLÜCKLICHE TAGE

Beim Detmolder TheatreFragile geht es nicht nur in die Stadt oder in Parks, sondern auch in den deutschen Wald. Theater im öffentlichen Raum findet halt nicht nur auf der Straße statt. Das von Luzie Ackers und Marianne Cornil geführte Ensemble hat sich als Markenkern auf Maskentheater spezialisiert. Dabei werden aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen und über poetische Mittel zugänglich gemacht. »Wie du in den Wald hineinrufst … Stimmen über den Wald« ist eine neue Produktion. Aus den Klängen des Waldes schälen sich Stimmen: Förster, Holzfäller, Wildnispädagoge und Waldbesitzerin, Spaziergänger und Naturschützerin erzählen, was sie im Wald finden. Dabei ist das Biotop nicht mehr ungefährdet. Der Klimawandel bedrängt auch den hiesigen Naturraum. Fragile arbeitet mit dem Klang dieses Raums und eröffnet so den poetisch politischen Diskurs.

Das Maskentheater des TheatreFragile.

Das Maskentheater des TheatreFragile.

Mit der Inszenierung »close.r« entwickelt TheatreFragile einen interdisziplinären Streifzug durch die Stadt, auf der Suche nach den verschiedenen Gesichtern der Einsamkeit hin zu Fragen, die sich mit dem zukünftigen Zusammenleben von potenziellen Gemeinschaften auseinandersetzen. Die Uraufführung wird im Rahmen des Festivals »Bildstörung 2024« in Detmold stattfinden. »Die verschiedenen künstlerischen Mittel wie Maskenspiel, Soundcollagen und Bildcollagen an Häuserwänden interagieren, um für dieses intime und zugleich gesellschaftlich relevante Thema einen sensiblen und aktivierenden Wahrnehmungsraum zu schaffen«, heißt es im Konzept. Auch mit diesem wichtigen gesellschaftlichen Thema wird das TheaterFragile die Zuschauenden wieder einmal berühren.

So vielfältig wie der öffentliche Raum sind die Inszenierungen darin. Royal de Luxe gehören mit ihren gigantischen Spektakeln mit zu dem Aufregendsten, was das Straßentheater zu bieten hat. Aber auch im kleineren, oft tierischen Format der Walk-Acts des Theater Pikante faszinieren die quirligen Inszenierungen. Grotest Maru bespielen nicht nur die Horizontale, sondern auch die Vertikale des Stadtraums. Und das Theater Anu schafft mit seinen Installationen moderne Traumwelten und verzaubert Parks und Gebäude. Dem TheaterFragile gelingt es seit 2007, die uralte Kunst des Maskenspiels mit aktuellen Themen zu verbinden. Konvenable Sounds und prägnante Bilder gehören zum aktuellen Straßentheater oder Theater im öffentlichen Raum untrennbar hinzu.