Un-Label_(We don’t) [kehr]_(c) Bernard Mescherowsky (4) (Custom)

Kultur für wirklich alle

Lisette Reuter spricht lieber von »access« als von Barrierefreiheit. Das Wort klingt ihr zu technisch. Ihr geht es auch um die Haltung dahinter. Ihre Lebensaufgabe heißt, Kunst und Kultur von allen Seiten für alle zugänglich zu machen.

Lisette Reuter hat ursprünglich Sonderpädagogik studiert. Ihr Vater hatte 1984 eines der ersten Theaterfestivals für Menschen mit Behinderung in Koproduktion mit der Heilpädagogischen Fakultät an der Uni Köln aufgebaut. Das waren Theaterfestivals für Laienkünstler:innen, für Schulgruppen, die dort eine Plattform geboten bekamen, um auftreten zu können. Ein großes Festival, das über Jahrzehnte lief. Kein Wunder, dass ihr trotz ihres sonderpädagogischen Studiums schnell klar wurde, dass sie keine Lust hatte, in einem engen System als Lehrerin an einer Schule zu arbeiten. Also schloss  sie noch ein Diplom-Pädagogik-Studium ab. Durch Zufall hat sie dann sieben Jahre lang für einen Kölner Verein EU-Projekte zur Förderung von jungen Künstler:innen in ganz Europa durchgeführt. 2013 ging es zurück zu den Wurzeln. Und so entstand das Projekt Un-Label in Köln.

Ihre Grundphilosophie ist einfach, Kunst und Kultur soll für jeden Menschen zugänglich sein:

Jeder Mensch hat das Recht, sich künstlerisch auszudrücken, und jeder hat ebenso das Recht, Kunst und Kultur zu rezipieren.

Lisette Reuter hat das Projekt Un-Label ins Leben gerufen.

Lisette Reuter hat das Projekt Un-Label ins Leben gerufen.

So arbeitet und kämpft Un-Label dafür, dass sich vor allem auch politisch und gesellschaftlich etwas verändert, dass Kunst und Kultur für alle, die es möchten, zugänglich wird, und dass von kultureller Teilhabe wirklich niemand ausgeschlossen ist. Das ist zwar eigentlich in Deutschland schon gesetzlich als Anspruch verankert, aber es geht in der Praxis und Realität zu oft nicht über den Anspruch hinaus. Lisette Reuter geht es darum, dass sich das Mindset verändert: »Ich bin davon überzeugt, dass Kunst und Kultur eine Brückenfunktion in unserer Gesellschaft haben. Dass wir den Luxus im Kunst- und Kulturbereich haben, alles auszuprobieren und ein Stück weit auch zu zeigen, vielleicht auch in Utopien, wie Gesellschaft auch möglich ist. In Kunst und Kultur hat man aber auch Chancen, dass man scheitert.« Für sie ist das eine wichtige Brückenfunktion, dass Kunst- und Kulturschaffende auch ein Stück weit Impulsgeber:innen und Vorreiter:innen für andere gesellschaftliche Bereiche sind. Kunst und Kultur sind die wichtigsten Grundpfeiler einer Gesellschaft, der Nährboden sozusagen.

Un-Label bietet Workshops an und führt alle zwei Jahre in Kooperation mit Kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion, ein großes, internationales Symposium durch. Dadurch ist ein großes Netzwerk zum Austausch von Kulturschaffenden auf europäischer Ebene entstanden. Lisette Reuter: »Alle, die mit uns arbeiten oder mit uns durch Aktivitäten in Kontakt gekommen sind, führen natürlich auch ein anderes inklusives Bewusstsein in ihrem Kulturbereich weiter. Das bezeichne ich als First Mover.« Viele Künstler:innen, die nicht behindert sind, aber künstlerisch forschen, lernen ein anderes ästhetisches Denken sowie barrierefrei zu arbeiten. Eine weitere Säule von Un-Label ist die Beratung. Im April 2021 wurde das große Modellprojekt namens »Access Maker« gestartet, bei dem in drei großen Theatern in Nordrhein-Westfalen über drei Jahre eine Begleitung stattfindet. Es geht aber auch darum, wie sich Fördersysteme im Kunst- und Kulturbereich verändern müssen, damit andere Akteur:innen gefördert werden, um inklusiver zu arbeiten, sich inklusiver zu öffnen und barrierefreier zu produzieren.

"We dont [kehr]" ist die neue Produktion des Projekts Un-Label

“We dont [kehr]” ist die neue Produktion des Projekts Un-Label

An eigenen Produktionen hat Un-Label inzwischen sieben Stück herausgebracht. Die neueste Produktion heißt »(We don’t) [kehr]« und hatte im August 2021 im Kölner Fantasiegarten Odo Odonien Premiere. In dem Stück beschäftigt sich das Künstler-Duo Jane Blond and that Stevil Kniewel alias Jana Zöll und Steven Solbrig mit dem Thema Care-Arbeit und eröffnet ein breites Spektrum von neuen Perspektiven darauf: »Was bedeutet Hilfe in unserer Gesellschaft? Welche Bilder von Care-Arbeit haben wir verinnerlicht und welche Beziehungsdynamiken gehen damit einher? Wo hört Hilfe auf und wo fängt Gewalt an?« Die beiden Künstler:innen kehren den Staub des Sozialsystems hervor und konfrontieren mit den Abgründen des üblichen Hilfsgestus. Anders als bei dem Theaterfestival ihres Vaters sind bei Un-Label professionelle Künstler:innen beteiligt, die nach den Empfehlungen der Landesverbände der Darstellenden Künste honoriert werden. Das entspricht nämlich auch der Grundphilosophie von Inklusion.