Der Hit der Kunst-Biennale in Venedig war die Strandoper »Sun and Sea (Marina)«
Ein freundlicher Post vom Litauischen Pavillon in Venedig erreichte die internationale Kunstwelt drei Wochen vor dem offiziellen Ende der weltwichtigsten Kunstausstellung 2019: »Liebe Freunde, morgen, am 30. Oktober, schließen wir unsere Performance ›Sun and Sea (Marina)‹. Es ist uns einfach zu kalt.«
Im kühlen deutschen Nebelherbst kann ich es kaum glauben: Dort unten in der alten venezianischen Lagerhalle aalen sich jetzt immer noch rund 20 leichtbekleidete Männer, Frauen und Kinder am schmuddeligen Sandstrand unter künstlichem Sonnenlicht, cremen sich gegenseitig den Rücken ein – und singen. Acht Stunden ohne Pause, zweimal in der Woche, seit einem halben Jahr. Und immer noch stehen rund 70 Kunstinteressierte auf der hölzernen Empore um sie herum und schauen mit einer Mischung aus Faszination und Langeweile aus drei Metern Höhe auf sie herab.
≫Sun and Sea (Marina)≪ ist der nationale Beitrag des Staates Litauen zur Kunst-Biennale in Venedig. Die Opern-Performance mit 13 Stimmen ist eine kollaborative Arbeit von drei litauischen Künstlerinnen, der Filmemacherin Rugilė Barzdžiukaitė, der Schriftstellerin Vaiva Grainytė und der Komponistin Lina Lapelytė. Alle drei sind Mitte 30 und kommen aus der Stadt Kaunas.
Kläffende Kleinhunde, tropfende Eiscremes, vom Winde verwehte Plastiktüten – und Songs über fast nichts
≫Stellen Sie sich einen Strand vor – Sie mittendrin oder besser von oben beobachtend – brennende Sonne, Sonnencreme, bunte Badeanzüge, verschwitzte Handflächen und Beine. Müde Gliedmaßen faul ausgebreitet auf einem Mosaik aus Handtüchern. Stellen Sie sich das normale Kindergeschrei vor, Gelächter, das Klingeln eines Eiscremewagens in der Ferne. Das Knistern von herumwirbelnden Plastiktüten, ihr sanftes Schweben, quallenähnlich, unter der Wasseroberfläche. Das ferne Brummen eines Vulkans oder eines Flugzeugs oder eines Motorboots. Dann eine Folge von Songs: Alltagssongs, Songs über Angst und Langeweile, Songs über fast nichts. Und darunter: das langsame Knarren einer erschöpften Erde, ein Ächzen …≪
So beschreiben die drei jungen Künstlerinnen ihr Werk, aber in der knappen Stunde auf meinem Ausguck entdecke ich da unten am Strand noch viel mehr: Einen kleinen weißen Terrier, der jedes Mal unter dem Liegestuhl seines Frauchens hervorschießt und wütend kläfft, wenn das andere Frauchen die ebenso kleine Promenadenmischung an der kurzen Leine vorbeiführt. Der genervte Blick des krebsroten Mannes hinter seiner Zeitung. Die Mama im Leoparden-Bikini, die ein tropfendes Stieleis aus der Kühltasche kramt und es ihrem kleinen Sohn in die sandige Hand drückt. Der junge Mann, der XXL-Badetuch und Kopfhörer mit seinem gutaussehenden Partner teilt. Das achtlos hingeworfene Fahrrad, das bei jeder Bewegung der beiden ballspielenden Zehnjährigen weiter im Sand verschwindet …
Noch hundert weitere Details eines normalen, nach Sonnencreme stinkenden Strandtages wären hier aufzuzählen. Allesamt unspektakulär – als Video würde ich mir das keine drei Minuten lang anschauen. Aber diese Leute da unten, die Tiere, die Dinge … sie sind auf frappierende Weise echt. Die spielen nicht, die sind einfach da.
Und dann singen sie auch noch. 23 Stücke, Chor, Solo, Duett, a cappella oder minimalistisch begleitet von einer Elektro-Orgel. Eingängiger Gesang, der trage dahinplätschert wie ein Urlaubstag am Mittelmeer, ausgebildete Stimmen. Das Faszinierende: Ich bin auf meiner Empore ungefähr so nah an den Sängern wie man auf einem Dreimeterbrett an den Schwimmern unter sich ist. Trotzdem brauche ich bei jedem neuen Song einige Minuten, bis ich herausgefunden habe, wer da eigentlich gerade singt. Keiner der Solisten verändert beim Singen seine Position, man liegt flach auf dem Handtuch oder bequem im Liegestuhl, kniet vor der Sandburg oder spaziert mit dem Hund. Die Libretti, in Englisch, Italienisch und Litauisch, hängen fotokopiert am Geländer. Ich schaue kurz rein und verstehe, dass ich nicht mitlesen muss. Die Songtexte sind ein Potpourri der möglichen Gedanken möglicher Menschen am Strand. Mal philosophisch, meistens banal, öfter unglücklich, manchmal auch glücklich – mehr muss man nicht wissen.
Wie ein kurvenreicher Weg zum Ziel die Begehrlichkeit steigert – und die Völkerverständigung
… und mehr passiert nicht im litauischen Pavillon. Trotzdem ist diese Performance der Superhit der Kunst-Biennale 2019. Nach der überraschenden Juryentscheidung, Litauen mit dem Goldenen Löwen für den besten Pavillon zu ehren, überschlägt sich die Fachpresse und das Publikum kommt in Scharen. Oder versucht es zumindest. Denn der litauische ≫Pavillon≪ findet sich nicht an den beiden bekannten Haupt-Ausstellungsorten Giardini oder Arsenale, sondern in einem militärischen Sperrgebiet, in Fußentfernung zum Markusplatz, aber im tiefsten touristischen Abseits. Ja, sowas gibt’s in Venedig reichlich! Schon deshalb fahre ich alle zwei Jahre wieder hin.
In diesem Jahr nutze ich erstmals die Biennale-App mit GPS-Navigation, aber auf dem kurvenreichen Weg zum gehypten Geheimtipp hilft sie kaum weiter. Mehr schon die zunehmende Dichte an suchendumherschauenden Kunsttouristen. Man dreht und wendet gemeinsam alle möglichen digitalen und analogen Stadtpläne, berät sich in diversen Weltsprachen und kommt dabei nett ins Gespräch, das sich dann in der Warteschlange vor dem litauischen Pavillon fortsetzt. Wenn das Schild am Ende der Schlange nur eine Stunde Wartezeit ausweist, hat man den Joker gezogen. Im prallen Sonnenschein sind die Besitzer altmodischer Print-Stadtpläne in der Poleposition, die Stimmung ist heiter und großzügig, man beschattet sich gegenseitig und hilft sich sogar hier und da mit Flüssigkeit aus. Besonders liebenswert erscheint mir eine asiatische Dame mit antibakteriellem Mundschutz, die einem verschnupften englischen Kleinkind einen kräftigen Schluck aus ihrer Wasserflasche spendiert.
Rund 80.000 Menschen haben in diesem venezianischen Kunstsommer ähnliche spannende Erfahrungen rund um ≫Sun and Sea (Marina)≪ gemacht. Die Performance geht jetzt auf Europatournee. Wohin und wie lange hängt von der Finanzierung ab. In Deutschland war die Performance übrigens zuerst zu sehen. Die drei litauischen Künstlerinnen waren Stipendiatinnen des Art-in-Residence-Programms am Schloss Solitude in Stuttgart, haben dort die erste Fassung ihres Werks erarbeitet und schon 2016 in einer Stuttgarter Galerie aufgeführt. Die zweite interessante Betrachtung: Es ist das zweite Mal in Folge, dass ein Pavillon mit performativer Bespielung den Goldenen Löwen erhält – nach dem deutschen Pavillon mit Anne Imhofs Faust vor zwei Jahren. Performance powered by Germany. Klingt doch gut.