Hat Straßentheater Zukünfte – Und wenn ja, welche?
Straßentheater in seinen heutigen Formen ist ein Erfolgsmodell der 90er-Jahre. Viele Sommerprogrammformate und Festivals sind mittlerweile 30 Jahre alt. Für Veranstalter:innen, Agenturen, Techniker:innen und Künstlerinnen und Künstler ist ein Feld entstanden, das vielen seit Jahren Arbeit, Aufgabe und Sinnhaftigkeit gibt.
Gerade in kleineren und mittleren Kommunen entstanden viele Formate, die meist zugangsfrei waren und – sofern sie noch existieren – ihr Publikum bis heute erreichen. Doch Erfolg verführt bekanntlich auch dazu, dass einmal entwickelte Konzepte ohne große Veränderungen Jahr für Jahr reproduziert werden und dass die Konzepte irgendwann antiquieren, verstauben und den Anschluss verpassen. Die globale Stadtgeschichte ist ca. 8.000 Jahre alt. D. h. der Mensch lebte fast 290.000 Jahre lang ohne Städte. Die Menschen lebten in kleinen Verbünden, homogenen Gruppen, Großfamilien oder Stämmen.
Meine steile These: Die Stadt ist ein soziales Experiment. Denn diese Form des Zusammenlebens brachte nicht nur Vorteile. Es prägten sich negative soziale Phänomene in einer Weise aus, wie sie vorher unbekannt waren: Anonymität, Hierarchie, Ungleichheit, Konkurrenz. Neben den ökonomischen Möglichkeiten und der Regelung von Pflichten und Rechten entwickelte die Stadt gerade wegen der sozialen Ausnahmesituation Praktiken und Orte der Gemeinschaftserfahrung, wie beispielsweise Versammlungsplätze, gemeinschaftliche Ereignisse, regionale Geschichten, religiöse Kultstätten etc., um Gemeinschaft zu bilden, Identität zu stiften und das Gefühl der Verbundenheit zu initiieren. Man könnte sagen, die Entwicklung einer ausgeprägten Stadtkultur war die Antwort auf die unnatürliche soziale Situation in den Städten.
Und in diesem Zusammenhang ist auch die Entstehung des europäischen Theaters einzuordnen – nicht um Göttern zu huldigen wurde aufgeführt, sondern einen gemeinsamen regionalen Geschichtenkanon zu etablieren, um beim Publikum Identität zu stiften bzw. zu stärken und es so auf das Gemeinwesen einzuschwören.
Wie sieht es heute aus? Alle mir bekannten Nichtbesucher-Befragungen für den Bereich kulturelle Veranstaltungen nach Corona haben eines gemeinsam: Von null auf Platz eins schafft es ein vorher noch nie aufgetauchtes Argument: »Ich habe mich daran gewöhnt, mehr zu Hause zu bleiben.« Das ist für die Kultur ein ernsthaftes Problem und für das soziale Metawesen in einer Stadt alarmierend. Wir spüren, wie die Bindungskräfte schwinden und das Metawesen Kommune in Schwierigkeiten gerät. Deshalb frage ich, wenn ich nach den Zukünften des Straßentheaters frage: Welchen Beitrag könnte hierzu unser Genre leisten? Theater ist eine Versammlungskunst. Sie bringt Menschen zusammen. Wir brauchen mehr Veranstaltungsformate, die Zusammenhalt und Begegnung fördern.
Theater ist eine emphatische Kunst. Sie kann Menschen die Erfahrung des Mitfühlens und Erlebens »aus anderen Augen« geben. Wir müssen gute Geschichten entwickeln, die das Potential haben, Menschen zu berühren, und wir brauchen Veranstalter:innen, die diese dann auch einladen. Theater kann Begegnung und spielerisches Miteinander initiieren. Theater kann verbinden. Wenn wir uns mit diesem lohnenden Themenfeld beschäftigen, kann das Genre Straßentheater wieder an Bedeutung gewinnen. Das kann eine wichtige, muss aber eben auch nur eine von vielen Zukünften sein!
Und um die anschließende Diskussion weiter zu befeuern und nicht um zu verärgern, möchte ich auch noch provokant anfügen: Unsere Kunst kann mehr, als sie gerade zeigt! Diesen Potentialen müssen wir uns sehr gewahr werden. Diese Kunst soll unterhalten, aber nicht nur! Diese Kunst soll zum Lachen bringen, aber nicht nur! Diese Kunst soll spektakulär sein, aber nicht nur! Diese Kunst muss mutig und streitbar sein dürfen! Sie darf sich weder dem Diktat von Sponsor:innen, Veranstalter:innen noch dem Förderdiktat eines »gesellschaftsrelevanten« und »innovativen« Theaters unterordnen.
Wenn diese Kunst stirbt, stirbt sie aus meiner Sicht an ihrer Oberflächlichkeit.
Diese Kunst stirbt daran, dass sie es nicht geschafft hat, in Form und Inhalt tiefe Resonanz bei den Besuchenden auszulösen. Diese Kunst stirbt daran, dass Festivalleiter:innen, Künstlerinnen und Künstler die Über- bzw. Weitergabe nicht organisiert haben. Diese Kunst muss ein tiefes Verständnis vom Menschsein und seinen ewigen Themen haben und erzählerisches Talent und Hingabe.
Von Stefan Behr, zusammengefasst von Kerstin Meisner-Schaul
Stefan Behr studierte Sozialpädagogik in Darmstadt und Theaterpädagogik in Bayern. Er lernte Regie bei Mario Delgado / Peru. Er begründete 1998 das Theater Anu und ist dort bis heute als Autor und in der künstlerischen Leitung tätig. Seit 1993 konzipiert und kuratiert er das internationale Straßentheaterfestival »Gassensensationen« in Heppenheim. Stefan Behr hielt den vollständigen Vortrag Anfang des Jahres beim »Blickwinkel«, der Konferenz für Straßentheater, in Dinslaken.