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Corona vs. Chancen für die Kultur – Stefan Hermanns

Wenn es einen Menschen gibt, der Kultur im Blut hat, dann ist es Stefan Hermanns. Er ist nicht nur mit seiner beruflichen Position im Kulturamt Paderborn dieser Leidenschaft verfallen, sondern mit seinem ganzem Sein. „Ich bin genau da angekommen, wo ich hingehöre. Hier möchte ich nicht mehr weg“, so der Wahl-Paderborner. Ich habe ihn mit Fragen zu seinem Weg, seinen Visionen und vor allem seiner Meinung über die Corona-Pandemie hinsichtlich der Kulturszene gelöchert. So viel sei vorab verraten: Stefan Hermanns ist ein Mann der Taten. Selbst Corona lässt ihn nicht verharren, sondern kurbelt seine Produktivität und Kreativität sogar richtig an.

Der Weg in die Kultur

Angefangen hatte sein Weg in die Kultur 1996 mit einem Studium in Hildesheim. „Grafikdesign, Fotografie, Theater, Schauspiel – ich hatte schon damals so viele künstlerische Interessengebiete, dass ich mich beruflich nicht für einen einzelnen Bereich entscheiden konnte. So bin ich über den Studiengang der Kulturpädagogik gestolpert, der viele meiner Interessen vereinte“, erklärt mir Stefan Hermanns. Und schon damals bewies er ordentlich Biss. Denn obwohl er zunächst von der Universität abgelehnt wurde, besuchte er auch ohne offiziellen Studienplatz die Seminare und sammelte sogar Scheine. „Zum Glück wurde ich später doch noch für das Studium angenommen und hatte dann vier Jahre später mein Diplom in der Tasche“, ergänzt er. Bereits zu diesem Zeitpunkt beschäftigte er sich intensiv mit der Frage, wie es möglich sei, Kunst mit Beratungsprozessen effektiv miteinander zu verknüpfen. Er bildete sich daher im Coaching-Bereich weiter, bevor es ihn nach einer kurzen Phase in der Selbstständigkeit weiter nach Köln zog. Dort absolvierte er eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann.

Viele Erfahrungen im Eventmarketing

„Die Ausbildung war damals noch ganz neu und nicht wirklich ausgereift. Zu meinem Vorteil bin ich darüber aber an ein Praktikum gelangt, das mir später die Türen zu meinem Job im Eventmarketing des ‘CentrO Oberhausen’ öffnete“, erzählt Stefan Hermanns. Hier arbeitete er zwei Jahre lang und war maßgeblich dafür verantwortlich, über 350 Promotion-Events und zehn Großveranstaltungen zu organisieren. „Es war eine großartige Zeit, in der ich viel gelernt habe, aber der Job hatte halt nichts mit Kultur zu tun. Deswegen bin ich in den Kulturbetrieb der Stadt Velbert gewechselt, um endlich richtig durchzustarten“, so der gebürtige Solinger.

Kaum war er dort angekommen, wurde er auch schon desillusioniert: „Kurze Zeit nach meinem Start in dem Kulturbetrieb kürzte die Stadt zunehmend die Gelder für kulturelle Investitionen. Denn was viele nicht wissen: Velbert beheimatet zahlreiche weltmarktführende Unternehmen der Industrie und hatte den Fokus immer mehr von der kulturellen Attraktivität der Stadt abgewandt.“ Dennoch blieb er über acht Jahre lang in dieser Position. Er war in Velbert zuständig für das gesamt Corporate Design der Stadt und hat selber Layout-Aufträge vergeben. In dieser Zeit hat er auch das Corporate-Design-Handbuch überarbeitet, einen Film über die Schlüsselregion Velbert erstellt, ein Bürgerinformations-Baubüro für ein großes Innenstadtprojekt konzipiert, diverse Konzepte für das Stadtmarketing entworfen und realisiert. Eine umtriebige Zeit aber wenig Kultur. Bis zu dem Tag, an dem er von einer freiwerdenden Stelle im Kulturamt der Stadt Paderborn erfuhr.

Stefan Hermanns ist endlich angekommen

Die berufliche Veränderung in 2016 bedeutete eine echte Wendung in Stefan Hermanns Leben. Mit seiner Frau, seinen zwei Kindern und einer Menge Motivation im Gepäck verschlug es ihn nach Paderborn. Und hier fühlt sich für ihn endlich alles richtig an: „Ich bin für Großveranstaltungen ab 10.000 Besuchern und fünf Festivals verantwortlich – unter anderem für die Performance Kulturbörse für Straßenkunst, die wir quasi mit nur anderthalb Personen organisieren. Und ich muss zugeben, dass ich am Anfang keine Ahnung hatte, worauf ich mich da eingelassen hatte“, schmunzelt er.

Performance Paderborn

Die Performance Paderborn ist europaweit die größte Börse für Straßenkunst.

Die Performance ist europaweit die größte Börse für Straßenkunst mit über 80 Auftritten am Tag, einer begleitenden Messe und einer Galaveranstaltung. Ja, das ist wirklich eine Hausnummer! Doch die größte Herausforderung bestand für Stefan Hermanns zunächst darin, grundlegende Strukturen zu erarbeiten: „Mein Vorgänger war ein analoger Typ. Daher gab es keinerlei digitale Infrastrukturen, was die gesamte Orga noch zeitaufwendiger gestaltet hat, als sie eh schon ist.“ Damit meint er nicht nur die jährlich rund 200 analog eintrudelnden Künstlerbewerbungen, sondern durchschnittlich über 80 Mails pro Tag – und das allein für die Kulturbörse!

„Das Kommunikationsvolumen war immens! Vom Erstkontakt bis zum Vertragsabschluss für die Performance waren rund zwanzig Kontakte pro Künstler an der Tagesordnung – insgesamt 6.000 Mails oder Telefongespräche pro Jahr. Seit letztem Jahr haben wir glücklicherweise eine umfassende Datenbank, die individuell auf die Performance zugeschnitten ist. Die Künstler haben sich anfangs noch gesträubt, ihre Bewerbung und Kommunikation mit uns fortan nur noch über Online-Formulare zu gestalten. Doch dass diese Digitalisierung mehr als überfällig war, wurde spätestens mit Eintritt der Corona-Pandemie wohl jedem bewusst“, so Stefan Hermanns.

Absage der Performance 2020 und der Blick nach vorne

Apropos Corona. Es liegt auf der Hand, welche Frage mir schon während des gesamten Gesprächs unter den Nägeln brennt: Wie steht es in diesem Jahr um die Performance, die traditionell jährlich auf dem Gelände des Paderborner Schlosses stattfindet?

Performance Paderborn

Erinnerung an die Paderborner Perfomance 2017 bei schönstem Wetter.

„Bis zuletzt hatten wir die Hoffnung, die Kulturbörse 2020 irgendwie realisieren zu können. Doch Anfang Juni stand final fest, dass sie leider nicht stattfinden wird. Zum einen haben wir vergleichsweise wenige Künstlerbewerbungen erhalten aufgrund der finanziellen Situation vieler Künstler. Zum anderen suchen die meisten Fachbesucher derzeit schlichtweg keine neuen Künstler, da die meisten Verträge aus diesem Jahr aufs nächste verschoben werden. Außerdem – und das ist für mich persönlich ein wirklich ausschlaggebender Faktor – wäre die Kulturbörse unter diesen strengen Corona-Auflagen einfach nicht dasselbe. Kultur will erlebt werden. Und zwar nicht durch Masken und mit 1,5 Metern Abstand zwischen den einzelnen Zuschauern. Dieses ganze Konstrukt passt einfach nicht zur Straßenkunst“, offenbart Stefan Hermanns.

Derzeit feilt er an einem Online-Konzept, bei dem die Zuschauer zumindest über einen digitalen 360-Grad-Rundgang über den Paderborner Schlosspark an einzelnen Spots zu den Webseiten der Künstler geleitet werden, die eigentlich hätten auftreten sollen.

Kultour-Caching ermöglicht Kultur auch während Corona

Stefan Hermanns Kultour-Caching

Innovative Idee: Kultour-Caching, um Kultur auch während Corona zu ermöglichen.

Die Absage der Performance 2020 bedeutet jedoch keineswegs, dass sich Stefan Hermanns nun zurücklehnt und abwartet. Im Gegenteil. „Wenn ich eines nicht kann, dann ist es stillsitzen. Schon mit Eintritt der Corona-Situation sprudelten mögliche Ideen und Lösungsansätze in meinem Kopf. Einen davon haben wir innerhalb von nur sechs Wochen in die Tat umgesetzt: Kultour-Caching“, verrät er. Die Überlegung war, wie es trotz COVID-19 möglich sein könnte, Künstler auftreten zu lassen und Bürger in den öffentlichen Raum zu holen, ohne einen Massenandrang zu provozieren. Geboren war die Idee des ‘Kultour-Caching’ – inspiriert vom Geo-Caching. Dafür hat das Kulturamt der Stadt Paderborn innerhalb der vergangenen Wochen sogar eine eigene App entwickelt. Wie das Ganze funktioniert hat mir Stefan Hermanns genau erklärt:

„Über die kostenfreie App können Kultur-Interessierte in Paderborn vorbestimmte Routen ablaufen und bekommen in regelmäßigen Abständen an gewissen Stellen Performance-Spots angezeigt, auf denen ein Künstler auf sie wartet – natürlich virtuell. Per Knopfdruck können die Zuschauer dann an der jeweiligen Stelle den Auftritt des Künstlers durch ihr Smartphone an der frischen Luft erleben. Um das zu ermöglichen, haben wir vor wenigen Wochen ein großes Green-Screen-Studio errichtet, fünfzig Künstler nach Paderborn geholt und aus den einzelnen Acts Videos produziert. Diese wurden, wie es sich für virtual reality gehört, in den jeweiligen Schauplatz auf der Route projiziert. Das Schöne ist, dass die Acts aber auch für jene Menschen, die unter Quarantäne stehen oder nicht rausgehen können, erlebbar sind. Wir haben dazu eine Postkarte entwickelt, über die die Künstler-Acts mit dem Smartphone gescannt und aufgerufen werden können.“

Kostenfreie App seit dem 26. Juni 2020 online

Die Kultour-Caching App steht seit dem 26.06. zum kostenlosen Download in den App Stores bereit (Infos unter www.kultour-caching.de). Bereits vier verschiedene Routen hat das kreative Team entwickelt. Und Stefan Hermanns verrät schon jetzt, dass im Juli und August bereits die nächsten Routen zur Verfügung gestellt werden sollen. Ich spüre, wie sehr er für dieses Projekt brennt! Innerhalb von gerade einmal sechs Wochen hat er es geschafft, aus einer groben Idee ein Produkt zu erschaffen, für das andere Unternehmen sicher mehr als ein Jahr gebraucht hätten. „Ich bin durch und durch ein leidenschaftlicher Marathon-Läufer. Diese Mentalität habe ich bei diesem Projekt selbst nochmal deutlich zu spüren bekommen“, so Stefan Hermanns, „Doch wie es bei jedem Marathon ist, braucht man wirklich einen langen Atem. Die vergangenen Wochen waren nicht ohne.“

Chancen für die Kultur

Dass Stefan Hermanns einen langen Atem und vor allem ein Ziel vor Augen hat, steht außer Frage. „Natürlich bin ich traurig, dass es in diesem Jahr kein reales Zusammenkommen auf unseren Festivals gibt. Ich vermisse die Veranstaltungen und ihr buntes, lebendiges Treiben. Doch es liegt nicht in meiner DNA, in Trauer zu verharren. Auch wenn es ausgelutscht klingt, ist an folgendem Satz was Wahres dran: ‘Be like water’. Sei nicht der Widerstand, sondern fließe drumherum und passe dich den Umständen an. Das, was wir alle in den vergangenen Monaten erleben mussten bzw. durften, ist eine Herausforderung. Doch ich sehe in dieser Situation auch große Chancen für die Kultur“, so Stefan Hermanns.

Jetzt ist die Zeit großer Veränderungen. Die Zeit, zu hinterfragen, alte Strukturen aufzubrechen und uns für Neues zu öffnen. Jetzt ist die Zeit, das Wasser und nicht der Widerstand zu sein. Stefan Hermanns geht in unseren Augen als großartiges Vorbild voran. Wir sind gespannt, wie sich seine Ideen noch weiterentwickeln. Und mit Sicherheit werden sie die deutsche Kulturszene nachhaltig und langfristig bereichern.

Danke, Stefan Hermanns, für dieses spannende Gespräch!