Photography by Studio Tomás Saraceno, © 2015

“Spider Man” Tomás Saraceno über Spinnen, seine Kunst und die Zukunft

Tomás Saraceno plant Städte, die über den Wolken schweben. Fliegende Skulpturen hat der visionäre argentinische Künstler schon realisiert. In seinem Studio in Berlin wird nachhaltig Zukunft gesponnen, gemeinsam mit Wissenschaftlern und ganz besonderen Assistentinnen: Hunderten von Webspinnen!

Saracenos Ausstellung "On Air" 2018 in Paris

Saracenos Ausstellung “On Air” 2018 in Paris

Tomás Saraceno bringt das, was in heimischen Zimmerecken sonst rigoros mit Staubwedeln bekämpft wird, ins Museum: Spinnennetze! Doch trotz gemischter Gefühle, die viele Menschen gegenüber Spinnentieren hegen, erweisen sich Saracenos Netzwerke regelmäßig als Publikumsmagneten. Auch seine riesige spinnennetzartige Konstruktion aus schwarzen Seilen, die er 2009 auf der 53. Biennale in Venedig zeigte und für die er den renommierten Calder Preis erhielt. Der 46-jährige Künstler, der in Buenos Aires, Venedig und Frankfurt Architektur und Kunst studiert hat, ist fasziniert von Spinnen. Er besitzt nicht nur die größte Spinnennetzsammlung der Welt und ein eigenes Spinnen-Forschungslabor, Spinnennetze sind auch die zentrale Inspirationsquelle seiner Kunst.

Wir haben uns entschieden, den Lebensformen, mit denen wir unsere Umwelt teilen, besondere Aufmerksamkeit zu schenken und ungehörte Stimmen zu verstärken.

Mit seinen komplexen Netzen knüpft der Sohn eines Physikers auch stets universelle Bezüge, denn für Saraceno ist das gesamte Universum eine Art Spinnennetz, in dem alles kausal miteinander verbunden ist. Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit in Zeiten des Klimawandels steht, erscheint ihm die fachübergreifende Vernetzung von Wissen dringend notwendig. So kooperiert Saraceno mit Naturwissenschaftlern, Luft- und Raumfahrtingenieuren der NASA und pflegt den intensiven Austausch von Kunst und Wissenschaft. Mit über dreißig Mitarbeitern, darunter Anthropologen, Designer, Architekten, Kunsthistoriker und Biologen, forscht er in seinem Berliner Atelier an nachhaltigen Lösungen für die Zukunft.

Unsere gesamte Atmosphäre wirkt wie eine gigantische Trommel, die von Menschen und Nichtmenschen gemeinsam gespielt wird.

Tomas Saraceno

Tomas Saraceno

Zu seinem interdisziplinären Team in Berlin gehören auch über dreihundert Webspinnen, die ihm zuarbeiten. Auf seiner bislang größten Einzelausstellung »On Air« 2018, im Pariser Palais de Tokyo, präsentierte er 76 ihrer filigranen Netzwerke, effektvoll beleuchtet auf schwarzen Podesten. Verstärkt von hochsensiblen Mikrofonen machte er die Vibrationen ihrer Spinnweben auch für das Publikum hörbar. »Webs of AT-TENT(S)ION« hieß diese Installation. Aus hunderten klangerzeugenden Saiten kreierte er zudem ein gigantisches begehbares Netz, dem die Besucher Töne entlocken konnten, und machte mit seiner Installation »Particular Matter(s) Jam Session« sinnlich erfahrbar, dass der Mensch umgeben ist von anderen Universen und unentwegt durch ein Meer von Staub und Abfallprodukten von Sternexplosionen navigiert.

Wir erforschen eine neue Epoche namens Aerocene: eine Zeit des ökologischen Bewusstseins, in der wir gemeinsam schweben, in und mit der Luft leben und eine ethische Verpflichtung gegenüber der Atmosphäre und der Erde eingehen.

Als 2015 in Paris über das Weltklima konferiert wurde, rief Saraceno das Zeitalter der Luft aus, und startete parallel dazu sein interdisziplinäres Kunstprojekt »Aerocene«. Eine offene Plattform zur Erforschung alternativer Lebensräume und einer umweltfreundlichen Luftfahrt. Noch im selben Jahr gelang ihm in der Wüste von New Mexico ein Weltrekord, beim ersten bemannten Flug, angetrieben allein durch Sonnenwärme. In Gwangju in Südkorea präsentierte er 2017 das »Aerocene Explorer Kit«. Einen Rucksack, der es seinem Träger ermöglicht, durch eine sich langsam entfaltende Ballonskulptur vom Boden abzuheben.

Ich würde sagen, dass wir uns innerhalb neuer Kategorien bewegen müssen, weg vom Homo oeconomicus hin zum Homo sapiens.

Saraceno stellt auch Spekulationen darüber an, wie der Mensch in Zukunft auf diesem Planeten wohnen wird. Vielleicht in freischwebenden modularen Wolkenstädten, die keinen festen Standort mehr benötigen? Mancher könnte in dem Mann, der fliegende Gärten und schwebende Drachen-Skulpturen entwickelt und von artenübergreifender Solidarität träumt, einen Don Quichotte 2.0 sehen. Doch mit genügend Sancho Pansas an seiner Seite lassen sich sicherlich visionäre gedankliche Fäden für eine freundlichere Zukunft spinnen.

Das Überschreiten von Grenzen, sei es artenübergreifend, fachübergreifend oder was auch immer, wird zu einem erweiterten Blickwinkel und zu einem besseren Verständnis vieler Lebensaspekte führen.

Eine von Saracenos wichtigsten Mitarbeiterinnen: die Webspinne.

Eine von Saracenos wichtigsten Mitarbeiterinnen: die Webspinne.

Saracenos Werk kann man als ein fortlaufendes Forschungsprojekt begreifen, als ein Plädoyer, die Welt auf eine poetische Weise neu zu denken und zu erfahren. Auch im K21 in Düsseldorf können sich die Museumsbesucher schwebend unter dem Hallendach von Tomás Saracenos Spinnereien zu einer neuen Weltbetrachtung anregen lassen und sich an seiner Installation »in orbit« träumend entlanghangeln. Der Zukunftsarchitekt Saraceno beschreibt es so: »Das ist, als würde man auf Wolken gehen.«