Mast-Akrobatik: Der Spät- und Durchstarter Sebastian Stamm
Wer mit 27 eine 80-Quadratmeter-Wohnung, zwei Autos, einen guten Job und sein soziales Umfeld für ein winziges WG-Zimmer, eine ungewisse Zukunft und ein Leben voller Entbehrungen eintauscht, hat entweder einen an der Klatsche oder einen Traum. Beim Breakdancer Sebastian Stamm war es der Traum, professioneller Artist zu werden. Heute ist Sebastian 29, frisch gebackener Absolvent der Staatlichen Schule für Artisten in Berlin und sicher einer der glücklichsten Menschen in der Bundeshauptstadt. Vor wenigen Wochen wurde er von memo-media und der Internationalen Kulturbörse Freiburg für seine Fähigkeiten im Bereich der Mast-Akrobatik mit dem Nachwuchsförderpreis »Sprungbrett« ausgezeichnet.
»Die Mast-Akrobatik bot mir so viel mehr künstlerische Möglichkeiten«
Die Lebensgeschichte des sympathischen Artisten ist so außergewöhnlich, dass man sie von Anfang an erzählen muss. Stamm wuchs in Crailsheim auf, einem beschaulichen Städtchen zwischen Nürnberg und Stuttgart, mit einem für dortige Verhältnisse recht außergewöhnlichen Faible für Breakdance. »Ich war immer ein Exot«, erinnert sich Sebastian. »Während andere nachmittags zum Kicken raus sind, habe ich mich in der Garage auf dem Kopf gedreht.« Dabei zeichnete sich der Teenager früh als geborener Autodidakt aus. Immer wieder sah er sich selbst aufgenommene Videos von Breakdance-Competitions an und versuchte, die Tricks der Profis nachzuahmen – mit Erfolg: 2006 nahm er erstmals an einer Breakdance-Weltmeisterschaft teil und wurde Neunter.
2011 heuerte er als Animateur und Tänzer in einer Ferienanlage in Ägypten an. Seine tägliche Trainingszeit musste er sich mit einem brasilianischen Mast-Akrobaten teilen. Angesichts der fünf Meter hohen Stange und der beeindruckenden Kunststücke, die sein Trainingspartner daran vollführte, packte Stamm erst die Neugier und dann die Begeisterung. Ein paar Grundlagen ließ er sich zeigen, den Rest improvisierte er. Ein Vierteljahr später hatte Sebastian bereits seinen ersten Auftritt im Club. Ab da war es um ihn geschehen. »Die Mast-Akrobatik bot mir so viel mehr künstlerische Möglichkeiten als das Breakdancen. Ich konnte damit den ganzen Bühnenraum füllen und war plötzlich wieder voller Inspiration.«
Dank »Das Supertalent« wurde Sebastian über Nacht berühmt
Die Leidenschaft für die Mast-Akrobatik ließ auch nicht nach, als er fünf Monate später nach Deutschland zurückkehrte. Er meldete sich beim Casting für die TV-Show »Das Supertalent« an, um einmal in seinem Leben auf einer großen Bühne zu stehen. Dort begeisterte Sebastian Jury und Publikum mit seiner Mast-Akrobatik, erreichte das Halbfinale und stand über Nacht im Fokus des öffentlichen Interesses. Der 1,60 Meter-Mann, der nebenbei Vollzeit als Einzelhandelskaufmann arbeitete, wurde auf der Straße erkannt, musste Fan-Briefe beantworten und hatte plötzlich Anfragen für bezahlte Gigs. »Das war unglaublich, ich hätte nie gedacht, dass man damit Geld verdienen könnte.« Dass Sebastian das Finale letztlich knapp verpasste, motivierte ihn nur noch mehr. Nach der Arbeit trainierte er wie ein Besessener, brachte sich wie früher in der Garage mit YouTube-Videos neue Tricks bei und erweiterte so sein Repertoire.
Doch die Entwicklung ging ihm nicht schnell genug. »Ich hatte meinen Job irgendwann auf 50 Prozent reduziert, um mehr trainieren zu können, aber so kam ich bei beidem nicht weiter und diese Mittelmäßigkeit nervte mich ungemein.« Um neue Impulse zu bekommen, nahm er Kontakt zu einem der Mastakrobaten auf, die er aus dem Internet kannte und besuchte ihn an der Staatlichen Schule für Artisten in Berlin. Schnell wurden die Lehrer auf den Unbekannten mit dem ungewöhnlichen Stil aufmerksam. »Die haben mich gefragt, wo ich in der Mast-Akrobatik ausgebildet wurde, und ich meinte nur >Gar nicht, das habe ich mir selbst beigebracht<.« Das hinterließ Eindruck und bevor drei Tage vorbei waren, hatte Sebastian das Angebot, im folgenden Schuljahr als Schüler aufgenommen zu werden.
»Das Gefühl war so stark, dass ich das einfach machen musste«
Sebastian war klar, dass er dafür alles aufgeben müsste: seinen Job, seine Freunde, seine Wohnung. Außerdem war er nicht mehr der Jüngste. Würde sein Körper das knallharte Trainingsprogramm durchhalten können? Vor allem, da er dem Breakdance eine angeknackste Bandscheibe und zwei operierte Hände zu verdanken hatte. »Das war die schwerste Entscheidung meines Lebens«, sagt er rückblickend. »Hätte ich eine Pro-und-Contra-Liste geschrieben, wäre ich nicht nach Berlin gegangen. Doch das Gefühl war so stark, dass ich das einfach machen musste.« Also zog er von seiner 80-Quadratmeter-Wohnung in Crailsheim in ein neun Quadratmeter großes WG-Zimmer in der Großstadt Berlin. Wie es die Regularien der Schule verlangten, holte er einen Schulabschluss nach, büffelte Mathe und Deutsch, kaufte sich wieder ein Mäppchen und einen Ordner. Das Training zehrte an seinen Kräften, doch Sebastian sog alles auf wie ein Schwamm. Dass seine Mitschüler alle gut zehn Jahre jünger waren als er, störte ihn herzlich wenig: »Ich bin selbst noch ein extremes Kind«, lacht er.
In diesem Juni beendete Sebastian seine zweijährige Ausbildung mit Bravour und dem Gewinn des »Sprungbretts«. Nun ist er gemeinsam mit den anderen Absolventen auf großer Abschlusstour. »Grammophobia« heißt das Programm, das aktuell durch deutsche Städte tourt. Für die Zeit danach hat Sebastian schon Anschlussbuchungen. Wo seine Reise weiter hingehen soll, weiß er jetzt noch nicht: »Ich will definitiv auf der Bühne bleiben und meine Freude mit dem Publikum teilen. Aber ich werde nicht ausschließlich bei der Mast-Akrobatik bleiben. Ich will mich noch breiter aufstellen und so viel erleben, wie ich kann.«
Der Text ist übrigens ein Auszug aus dem aktuellen showcases-magazin.