Inklusiv — Kein Hindernis für Kreativität
Bei der Inklusion geht es darum, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Assistenzbedarf gleichberechtigten Zugang zu verschaffen: auch zu Kunst, Kultur, Events. Der Gesetzgeber nennt diese Beeinträchtigung Behinderung. Im bundesdeutschen Recht wird die im Sozialgesetzbuch definiert: »Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.«
Trotz einer halbseitigen Lähmung wurde Rahsaan Roland Kirk ein erfolgreicher Multiinstrumentalist.
Es gab übrigens immer schon Künstler:innen, die trotz Beeinträchtigung durch eine Behinderung Weltkarrieren gemacht haben. Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec war durch eine Erbkrankheit kleinwüchsig, aber als Gigant der Malerei aus der Belle Époque nicht wegzudenken. Der Jazzer Rahsaan Roland Kirk, ein weltbekannter Multiinstrumentalist, bereiste die Bühnen der weiten Welt schon vor 60 Jahren, ebenso andere blinde Stars wie Stevie Wonder oder Ray Charles. Der contergangeschädigte Bassbariton Thomas Quasthoff sang in der Wiener Staatsoper und in Salzburg. Bei den dortigen Festspielen spielen in diesem Jahr geistig Behinderte im »Kaukasischen Kreidekreis«.
AUF AUGENHÖHE
ChrisTine Urspruch hat mit ihren 1,32 Metern Körperhöhe eine tolle Schauspielkarriere hingelegt. Bekannt wurde sie durch Filmrollen wie das Sams zu Anfang des neuen Jahrtausends. Zum Publikumsliebling wurde sie dann mit dem Münsteraner Tatort, in dem sie als Rechtsmedizinerin Silke Haller zum Ermittlungstrio gehört. Im Sommer gab es Aufregung um den Tatort. ChrisTine Urspruch wurde missverstanden. Die üblichen Verdächtigen sahen sogar Cancel Culture am Werk. Dabei hatte ChrisTine Urspruch nur darauf aufmerksam gemacht, dass die Drehbuchschreiber:innen ihren Rollennamen nicht mehr mit dem Rollenspitznamen Alberich, sondern mit dem Rollenklarnamen Silke Haller bezeichnen wollten. Viel Aufregung um nichts. Alberich (laut Sage ein Zwerg) bleibt dem Tatort erhalten und nimmt die spöttisch-liebevolle Ansprache durch ihren Vorgesetzten Professor Boerne weiter mit Humor.
Nicht nur bei Film und Fernsehen macht die gebürtige Remscheiderin eine gute Figur. Am Theater Bonn gab sie die Ophelia im »Hamlet«. An der Volksbühne Berlin spielte sie bei Herbert Fritsch und am Residenztheater München wie auch am Landestheater Bregenz. Am Volkstheater Wien war sie Ensemblemitglied. Sie macht Lesungen. Seit 2022 ist sie mit dem Schlagzeuger Stefan Weinzierl in einer Konzertlesungs-Adaption von Lewis Carolls »Alice im Wunderland« unterwegs. Sie ist ein gefragter Talkshowgast und würde auch, wenn es der dichte Terminkalender erlaubt, moderieren. Aktuell ist sie in der neuen Serie »Einspruch, Schatz!« als Anwältin Eva Schatz einschließlich turbulentem Privatleben auf dem Bildschirm. Ach ja, ein Bodenseeschifferpatent hat die selbstbewusste Schauspielerin auch.
DIE AKTIVISTIN
Für Lisette Reuter ist »Access«, also die Zugänglichkeit für wirklich alle und alles, eine Herzensangelegenheit. Das wurde der einstigen Sonderpädagogikstudentin quasi vom Papa in die Wiege gelegt. Der hatte 1984 ein Theaterfestival mit Behinderten ins Leben gerufen und gemanagt. Lisette schloss das Studium mit einem Diplom in Pädagogik ab, wusste aber, dass das enge Korsett des Schuldienstes nicht das ihre war. Sieben Jahre lang hat sie dann für einen Kölner Verein EU-Projekte zur Förderung von jungen Künstler:innen in ganz Europa durchgeführt.
Für Lisette Reuter ist Inklusion eine Herzensangelegenheit.
2013 gründete sie Un-Label, dieses Herzensding von Inklusion und Barrierefreiheit oder Access, das produziert, unterstützt und fortbildet. Ihre Grundphilosophie ist einfach. Kunst und Kultur soll für jeden Menschen zugänglich sein: »Jeder Mensch hat das Recht, sich künstlerisch auszudrücken, und jeder hat ebenso das Recht, Kunst und Kultur zu rezipieren.« So arbeitet und kämpft Lisette mit Un-Label dafür, dass sich vor allem auch politisch und gesellschaftlich etwas verändert, dass Kunst und Kultur für alle, die es möchten, zugänglich wird und dass von kultureller Teilhabe wirklich niemand ausgeschlossen ist. Un-Label bietet Workshops an und führt alle zwei Jahre in Kooperation mit Kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur ein großes, internationales Symposium durch. Dadurch ist ein großes Netzwerk zum Austausch von Kulturschaffenden auf europäischer Ebene entstanden.
Beachtlich sind auch ihre Theaterprojekte. 2021 machte »(We don’t) [kehr]« im Kölner Fantasiegarten Odonien auf sich aufmerksam. Welche Bilder von Care-Arbeit haben wir verinnerlicht und welche Beziehungsdynamiken gehen damit einher? Aktuell treffen sich Lolo und Tiki in einer U-Bahn. Sie reisen durch ihre Vorstellungskraft, während sie verschiedene Arten der Anziehung tänzerisch erleben. »Gravity (and other attractions)« ist eine zeitgenössische Tanztheater-Performance, die von einem gehörlosen Tänzer (Tiki) und einer hörenden Tänzerin (Lolo) aufgeführt wird und mit ganz vielen audiovisuellen und körperlichen Zugängen zu der Produktion brilliert.
DIE SIEGERIN
Kristina Vogel war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als sie ein Trainingsunfall hart stoppte. Dabei zählte sie zu den allerbesten Bahnradfahrerinnen der Welt. Jetzt ist die Querschnittsgelähmte auf den Rollstuhl angewiesen. Ganze elf Weltmeisterinnentitel hatte sie auf der Habenseite, 21 nationale Titel. 2012 erfuhr sie Gold im Teamsprint in London und 2016 Gold als erste Deutsche im Einzelsprint in Rio unter dem Zuckerhut und dazu einmal Bronze im Team-Sprint. Mehrfach brach sie Weltrekorde und war die schnellste Frau auf der 500-Meter-Strecke. 2009 hatte sie schon einmal eine schweren Trainingsunfall auf der Straße. Kristina Vogel wurde beim Straßentraining von einem Zivilfahrzeug der Thüringer Polizei erfasst und erlitt schwere Verletzungen. Sie kam nicht nur zurück, sondern errang danach ihre größten Erfolge.
2018 dann stürzte Vogel beim Training im Cottbuser Radstadion nach einer Kollision mit einem Fahrer und zog sich einen Trümmerbruch des Brustbeins sowie eine schwere Wirbelsäulenverletzung zu. Im Unfallkrankenhaus Berlin wurde sie operiert und konnte nach vier Wochen Intensivmedizin die Klinik verlassen, aber nicht mehr auf eigenen Füßen. Seitdem macht sie eine Trainerinnenausbildung und arbeitet als TV-Expertin für das ZDF. Daneben steht sie regelmäßig und gerne als Keynote Speakerin auf der Bühne. Auch auf Englisch. Sie berichtet packend, wie sie es geschafft hat, die besondere Challenge ihres Lebens anzunehmen, nach dem Unfall wieder aufzustehen und wieder Mut zu fassen. Denn das Leben war auch zuvor nicht einfach. Ihre Familie kam in ihrem ersten Lebensjahr mit nichts aus Kirgisistan nach Deutschland. Sie tanzte gerne und fuhr Rad. Als Leistungssportlerin hat sie in London und Rio Gold gefunden, aber sie besitzt noch Wertvolleres: Optimismus und den Willen, Ziele mit harter Arbeit zu erreichen.
DER GEBÄRDENDE
Okan Seese ist taub. Er ist türkischstämmig und schwul. Diverser geht kaum. Und er ist echt komisch. Er ist laut Selbstauskunft der einzige taube Komiker, der auch für Hörende auftritt. Er ist außerdem Schauspieler, Musikübersetzer, Gebärdensprachpoet und Moderator. Damit die Stand-up-Show auch für Hörende funktioniert, hat er sich den Comedian Archie Clapp ins Boot geholt, der seine Gebärdenwitze für Hörende zeitgleich in Sprechsprache übersetzt. Dass das Ganze sehr, sehr lustig ist, konnte man beim ZDF Comedy Sommer verfolgen. Dort trat er mit Abdelkarim und Atze Schröder auf. Er hatte die Lachbereiten schnell auf seiner Seite.
Dabei eröffnet er eine ungewohnte Perspektive: Ob Taube etwas mit Musik anfangen können? Wie sie ihren Wecker hören? Oder ob sie überhaupt Auto fahren dürfen? Wie telefonieren eigentlich taube Menschen? Können sie den Notruf wählen? Und törnt sie Stöhnen beim Sex an? Okan Seese klärt also auf. Sein erstes Programm heißt »Lieber taub als gar kein Vogel«. Außer beim ZDF ist er auch schon bei »NightWash« und den »Mitternachtsspitzen« aufgetreten, wo ihm die Lacher ebenfalls sicher waren. Humor ist doch die schönste gemeinsame Sprache.
IM ZENTRUM
Der Berliner Circus Sonnenstich hat im letzten Jahr sein Silver Jubilee gefeiert. Michael Pigl ist dessen Gründer und hat aus dem Zirkus heraus als Mitgründer 2011 auch das Zentrum für bewegte Kunst e. V. aus der Taufe gehoben. Der Zirkus ist eine gefragte Institution für Artist:innen mit Behinderung. Ebenso das Zentrum für »Inklusive Methoden und Körperkommunikation«. Pigl lehrt Zirkuskünste sowie Kommunikation und Empowerment mit dem Ziel, künstlerische und soziale Persönlichkeiten zu stärken und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung im Zirkus zu schaffen. Das Zentrum für bewegte Kunst e. V. ist auch erfolgreicher Gestaltungspartner für die Eventbranche, wenn diese sich dem Thema Inklusion und Empowerment öffnet. In.Zirque® ist die sich zur eingetragenen Marke entwickelte inklusive Didaktik für Bewegungskünste: eine künstlerisch gedachte Pädagogik.
Der Circus Sonnenstich im Chamäleon Theater ist der lebenslustige Kern des Ganzen, über den die Schauspielerin Katharina Wackernagel 2012 die Schirmfrauschaft übernahm. Zum 18. Jubiläum haben wir (www.memo-media.de/blog/ circus-sonnenstich-feiert-18-geburtstag) berichtet: »Mit tiefer Konzentration und erfrischender Leichtigkeit, mit poetischem Ernst und sinnlicher Hingabe schaffen es die Künstlerinnen und Künstler letztlich etwas Außergewöhnliches: die Zuschauenden vom ersten Moment an direkt in ihren Herzen zu berühren.«
Es gibt viele Menschen, die sich seit Jahrzehnten darum bemühen, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht außen vor bleiben und die, die trotz einer Beeinträchtigung in einem anderen Bereich Großes leisten. Auch bevor Diversität und Inklusion als gesamtgesellschaftliches Thema nach vorne kamen. ChrisTine Urspruch hat eine große Fangemeinde und agiert mit ihren viel geachteten Schauspielkolleg:innen trotz ihrer Kleinwüchsigkeit auf Augenhöhe. Kristina Vogel war vor ihrem Trainingsunfall eine mit doppeltem Olympiagold geehrte Sportlerin. Nach der Querschnittslähmung kämpfte sie sich im Rollstuhl ins Berufsleben zurück und berichtet spannend, wie sie diese besondere Challenge angenommen und bewältigt hat. Lisette Reuter und Un-Label sind in Köln eine Institution und ein bundesweiter Partner, wenn es um den Zugang für alle zu Kunst und Kultur geht. Okan Seese macht auch im Fernsehen erfolgreiche Comedy in Gebärdensprache. Für Hörende gibt es diesmal die Übersetzung. Also mal andersherum. Michael Pigl, das Zentrum für bewegte Kunst und der Circus Sonnenstich sind die Berliner Drehscheibe für »Inklusive Methoden und Körperkommunikation«, denen es immer wieder gelingt, die Herzen der Teilnehmenden zu erreichen.