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“Ich bin Grenzgänger”

Wie bist Du  mit alle deinen Projekten dahin gekommen, wo Du warst,
bevor Sars-CoV-2 kam?

Ich bin Grenzgänger zwischen verschiedenen Bereichen der Kreativbranche, je nachdem, wie man will Allrounder oder Universal-Dilletant. Studiert habe ich Film- und Fernsehwissenschaften, derzeit leite ich das Kulturbüros der Stadt Schwerte und bin damit künstlerischer Leiter des Festivals “Welttheaters der Straße“ und der „Schwerter Kleinkunstwochen“. Vorher war ich Hörspielregisseur beim WDR, Leiter des „ComedyArts Festivals Moers“ und an sehr unterschiedlichen Kunstprojekten beteiligt, insbesondere site-specific Inszenierungen. Gleichzeitig stehe ich selbst auf der Bühne, vor allem seit 20 Jahren mit dem physical-comedy Act Duo Diagonal.

Wie sieht Deine jetzige Situation aus?

Mehr Arbeit, weniger Verdienst. Bei der selbstständigen Tätigkeit gibt es ernsthafte Honorareinbußen, attraktive Projekte fallen aus, etwa die Beteiligung an einer ortsspezifischen Inszenierung für die Ruhrfestspiele und zahlreiche Gastspiele mit unser neuen Zeltproduktion „Das kleinste Varieté der Welt“. Die Soforthilfe deckt nur die Betriebsausgaben, also bleibt nur kreative Selbsthilfe: Ideen für corona-geeignete Produktionen habe ich viele, es braucht nur Finanzierung, deshalb habe ich mehrere Anträge gestellt und Partner gesucht.

Als Kulturbüroleiter erlebe ich das Gleiche von der anderen Seite. Unser Flaggschiff „Welttheater der Straße“ musste abgesagt werden. Stattdessen starten wir mit lokalen und auswärtigen Künstler*innen mehrere neue Projekte, u.a. ein 2-monatiges Autotheater und ein Stationstheater für Gruppen von 10 Zuschauer*innen, unterstützt von Sponsoren und dem Kultursekretariats NRW.

Was sind Deine Wünsche und Hoffnungen?

Kurzfristig hoffe ich, dass viele Veranstalter sich an alternative Konzepte für die kommenden Monate trauen. Besonders der öffentliche Raum bietet sich für unkonventionelle Formate an. Dabei denke ich sowohl an touristische Sommer-Events wie auch an eher künstlerisch orientierte Veranstaltungen.

Langfristig beflügelt die Krise die Transformation unser Gesellschaft ins digitale Zeitalter. Diese Veränderungen dürfen wir nicht den Technikern alleine überlassen! Gerade die Kreativbranche ist eine der wichtigsten Faktoren dabei. Wirtschaftlich ist sie bereits eine der umsatzstärksten Sparten. Viel mehr aber prägt sie, wie wir unsere Welt wahrnehmen und gestalten. Die Kunst im engeren Sinne ist dabei nicht zu trennen von den eher „angewandten“ Künsten wie Design, Entertainment, Publizistik. Leider zeigt sich derzeit, dass Teile der Politik „Kultur“ immer noch wie ein verzichtbares Deko-Element betrachten, nicht als das Gewebe, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Hier muss und wird ein neues Verständnis von Kultur wachsen. Also besser jetzt dabei sein, auch mit finanzieller Förderung und Integration in Entscheidungsprozesse. Sonst haben wir irgendwann zwar Autos und Flugzeuge, wissen aber nicht mehr, wohin sie uns warum befördern sollen.