Bild zu „Sayonara Tokyo“ im Wintergarten
(Bildquelle: Wintergarten Berlin)
Der höfliche Industrieroboter UliK serviert einen gelenkigen Akrobaten auf dem Tablett.

„Sayonara Tokyo“ im Wintergarten

vom 16.10.2017 veröffentlicht über meinMemo

Jubiläumsrevue mit Industrieroboter

"Ich musste mehrmals daran erinnern, dass wir hier nicht an der Oper sind!“, erzählt der Wintergarten-Chef Georg Strecker. Er will damit nichts gegen die Oper sagen. Nur gegen die Summen, die eine Inszenierung in Staatstheatern kosten darf, wo der aktuelle Regisseur sonst arbeitet. Strecker dagegen führt dieses private Wintergarten-Varieté, reichlich 500 Plätze, und jeden Euro für noch mehr Bühnen-Raffinesse muss er nachher an der Kasse einsammeln. Gut, aber gegen ein Bühnenbild, das es an Grandezza, Originalität und Schauwert mit der Oper aufnehmen kann, dagegen hat der Chef wiederum nichts. Er wiederholte zur Premiere von „Sayonara Tokyo“ am Mittwoch nur leicht unruhig: Sind wir verrückt? So eine Riesenshow hatten wir ja noch nie! – Stimmt, aber dafür ist es eine 25-Jahre-Jubiläumsrevue.

Der Vorteil des Fremden

Dazu später, erst das neue Programm: Tokio. Das ist doch mal eine Ansage. Nicht wieder der Seele Berlins hinterherspüren oder der Musik aus den Zwanziger oder Sechziger Jahren, nein etwas Fremdem. Keiner kann meckern, dass es sich falsch anfühlt, weil es keiner genau kennt. Das ist der Trumpf von Stephan Prattes, Bühnenbildner und Regisseur. Er nimmt einfach die Bilder, die jedermann mit dem Stichwort Japan verbindet und fügt sie zusammen zu einer kreischbunten Nummern-Revue.
Ein Klischee ist ein Klischee, weil es stimmt. Und hier fehlt keins: Die rote Sonne und der Fuji mit Schnee, der schnelle Shinkansen und der alte Drache, Tempel, Wolkenkratzer, Schriftzeichen – das alles halten schon die Kulissen fest, selbst die Wandvitrinen wurden zu Projektionsflächen für Japan-Symbole. Sie gipfeln in ein paar Minuten hinreißend bewegter Mangas auf einem Gaze-Vorhang, hochromantisch. Die Serviererinnen tragen Kimonos, auf der Speisekarte steht Sushi. Geishas, Tamagochis, Super-Marios, Pokémons, Hipster und ins Absurde verkitschte Showgirls tanzen und singen, dass es nur so kracht.

Zähne zeigen

Schnell erkennt man die amerikanische Showbühne, von den zur Präzision neigenden Japanern begeistert übernommen und ins Parodistische überhöht. Beim Strahlen zeigen die sonst so verschlossenen Künstler aus dem Land des Lächelns gern alle Zähne. Die Musik reicht von „Mitsou, Mitsou, Mitsou, mein ganzes Glück bist du“ bis „Hiroshima“ und „Big in Japan“. Wenn das nicht Camp ist.

Von einer Showtreppe schreitet auch der bayerische Japaner Takeo Ischi herab, 70, weißhaarig, Lederhosen. Tatsächlich versteht er zu jodeln, aber auch zu gackern wie ein richtiges Huhn, jeder Ton völlig ungeniert. Er war ein Star des Musikantenstadls, aber nicht nur das. Seine Youtube-Videos werden millionenfach aufgerufen. Wieder einen Trend verpennt? Nein! Der Jodler bleibt Geschmacksache wie das ganze Programm.

Das Eigenleben von UliK

Angelegt als Gutelaune-Feuerwerk ohne tieferen Sinn versammelt der Wintergarten wie immer auch überragende Akrobaten, darunter die Kontorsionistin Arisa Meguro und den Jo-Jo-Spieler Naoto Okada. Besonders verblüffend aber ist das, was Senmaru mit seiner Teekanne anstellt. Er balanciert das runde Porzellanteil mit Tülle und Henkel auf einem Stöckchen in seinem Mund, wendet und schleudert es – der Deckel fällt, die Kanne hält. Sie unternimmt Saltos und landet sicher abrollend auf dem Stöckchen.

Ein Kunststück.

Der Star des Abends aber heißt UliK und ist ein Industrieroboter mit neuem Eigenleben. Eine Art einarmiger Kran mit Gelenken, der kleine Tanzflächen und große Kugeln schwenken kann, auf denen Trommler kopfüber trommeln und Sängerinnen mit den Füßen nach oben singen. Der sonderbarste Effekt ergibt sich beim Schlussapplaus, wenn der Kran höflich knickst und sich verbeugt, alles so schön menschlich.

25 Jahre Wintergarten

Und weil der Wintergarten im September 25 Jahre alt wird, sei auch mal erwähnt, wem er seine Existenz heute eigentlich verdankt. Die Gründer André Heller, Bernhard Paul und Peter Schwenkow, die das Haus 1992 großsprecherisch als „Vatikan des Varietés!“ gründeten, verließen ja mehr oder weniger hurtig das Etablissement, das 2008 in die Insolvenz schlitterte und ratlose Nachrufe ertragen musste. Dem heutigen Geschäftsführer Georg Strecker, seit 20 Jahren dabei, saß der Schrecken lange im Nacken, bevor sich der Wintergarten neues Selbstbewusstsein zurückholte, erneuert und verjüngt. Strecker nahm Christoph Hagel und seine Breakdancer ins Programm, öffnete das Haus für den eigensinnigen Varieté-Visionär Markus Pabst, verlegte ein Stück in eine graue Irrenanstalt mit Schwulen und wagt sich nun an einen Tokioter Glamour- Abend.

Mehr Sorgfalt und mehr Risiko

Entstanden die Programme früher eilig routiniert in drei Tagen, werden sie heute ewig vorbereitet, sorgfältig und energetisch. Aber dafür muss „Saynonara Tokyo“ auch bis Februar laufen, hoffentlich weiter in überfülltem Parkett.

– von: Birgit Walter, Berliner Zeitung | Kultur und Medien | Theater